Brief an eine unbekannte Fee

Am Heiligen Abend 2016 berichtete Benjamin Maack auf Spiegel Online von einer Begegnung mit einer guten Fee, die ihm genau einen Wunsch erfüllen wollte – und forderte Leser dazu auf, ihre eigenen Wünsche an die gute Fee zu formulieren.
Natürlich konnte ich mir diese Gelegenheit nicht entgehen lassen, und so schickte ich eine Woche später eine Antwort, der ich meinen „Wunschzettel“ an die gute Fee beilegte. Die Fee selbst ist bis jetzt leider noch nicht dazu gekommen, mein Schreiben zu beantworten, aber immerhin von Spiegel Online kam eine kurze Eingangsbestätigung. Und nachdem ich meinen ursprünglichen Brief auf Anraten eines lieben Menschen etwas gekürzt und editiert habe, möchte ich ihn auch den Lesern meines Blogs nicht vorenthalten.

 

Liebe unbekannte Fee,

ich will ganz ehrlich mit dir sein: Ich weiß nicht, ob es dich wirklich gibt. Insofern ist es vielleicht albern, wenn ich dir heute schreibe, aber ein gemeinsamer Bekannter hat mich darum gebeten, dir ein paar Zeilen zukommen zu lassen. Und da dieser Bekannte von einer Begegnung mit dir berichtet, will ich deine Existenz zumindest nicht ganz ausschließen. In eurem Gespräch hast du ihm wohl die Erfüllung eines Wunsches angeboten, er aber musste dein Angebot ausschlagen, weil es ihm nicht gelang, einen nachhaltigen, selbstlosen Wunsch zu formulieren, dessen Erfüllung tatsächlich „etwas verändern“ würde. Denn etwas verändern: Das war sein erklärtes Ziel. Am Schluss bat er dann mich (und ein paar andere Leute), an seiner Stelle einen Wunsch zu äußern, den du dann vielleicht erfüllen könntest.

Nun, liebe Fee, bevor ich den an mich weitergereichten Blanko-Wunsch einlöse, will ich dir verraten, was du vielleicht selbst auch schon weißt: Der Mensch ist im Prinzip gut bis sehr gut. Und da, wo es hierzu nicht reicht, ist er im Schnitt meist noch wenigstens befriedigend oder (schwach) ausreichend. Insofern muss ich mir zumindest schon einmal nicht mehr wünschen, dass das Böse aus der Welt verschwinden möge – schließlich habe ich es soeben selbst hinfortdefiniert. Vorerst vielleicht nur für mich persönlich, grundsätzlich aber ganz altruistisch für alle Menschen, die von einem friedlicheren Miteinander träumen und bereit sind, sich meiner Logik anzuschließen.

Die Frage, was ich mir stattdessen von dir wünschen könnte, habe ich über die Feiertage mit einigen lieben Menschen besprochen, und einer der Vorschläge für den einen guten Wunsch lautete: „Weniger Fragen, dafür mehr Antworten.“ Spontan erschien mir diese Antwort legitim. Dann aber fiel mir unser gemeinsamer Bekannter ein – er hatte nicht nur mich dazu aufgefordert, mir Gedanken über potentielle Wünsche zu machen, sondern auch zahllose weitere Menschen. Vermutlich dürfte er zwischen den Jahren so viele Antworten erhalten haben, dass ihm spätestens am Neujahrstag der Kopf geschwirrt haben mag – und wenn jeder Mensch seine eigene Antwort hat, wenn jede Antwort aus der entsprechenden Perspektive richtig ist und dazu jede Antwort in gewissem Maße gut, dann entspringt aus der Vielzahl an Antworten doch nur wieder eine Frage: Wie bringen wir die vielen guten, richtigen Antworten unter einen Hut? Wie finden wir die eine Antwort, die für möglichst viele Menschen als beste und richtigste gelten kann?

Ich glaube, ich wünsche mir am besten ganz viel Weisheit. Nicht etwa für mich persönlich, sondern für die guten Männer und Frauen, die nach richtigen Antworten suchen, für die Völker und Nationen, die sich ganz verschiedene Fragen stellen, für die ganze Menschheit – denn die vielen Manifestationen der Wahrheit zu einer universell richtigen Antwort auf jede potentielle Frage zu destillieren, kann nicht die Aufgabe eines Einzelnen sein, der sich in einem selbst verfassten Text zum Lehrer definiert. Die Lösung dieser Aufgabe sollte die Klasse in Gruppen erarbeiten und diskutieren, damit alle Schüler verstehen können, wie die Lösung zustande gekommen ist. Vielleicht sollte die Antwort auch in mehreren Klassen parallel gesucht werden, damit sie am Ende unabhängig von der Klassenzugehörigkeit als richtig anerkannt werden kann – eine Antwort auf die Fragen unserer Zeit, die Kapitalisten, Proletariern, Funktionären und Konsumenten gleichermaßen schlüssig scheint: Ich bin mir sicher, dass ich nicht der Einzige wäre, der eine solche Antwort gerne hören würde. Und ich bin mir sicher, dass wir diese Antwort, wenn es sie denn geben sollte, nur gemeinsam finden können.

Wenn ich mir dann also doch etwas für mich persönlich wünschen dürfte, wäre es wohl ganz viel Ausdauer und Geduld – denn die ist sicherlich erforderlich, wenn ich zusammen mit unserem gemeinsamen Bekannten, ein paar weiteren guten Leuten sowie mit Freunden von Freunden, die sich mit uns gemeinsam auf die Suche machen wollen, den Lösungsweg beschreiten will: Noch ist die Antwort nicht gefunden, aber ich bin fest davon überzeugt, dass sie irgendwo da draußen ist. Es wird allerdings sicher nicht ganz leicht, sie zu finden – und auf einleuchtende Art und Weise zu erklären.

Liebe Fee, ich weiß, du wirst nicht alle meine Wünsche mit einem Pling! erfüllen können oder wollen – einige sind bestimmt viel zu vermessen, andere haben sicher irgendwo einen Haken, den ich nicht bedacht habe, und überhaupt sind vermutlich in den letzten Tagen so viele unaufgefordert eingesandte Wünsche bei dir eingegangen, dass deine Jahresplanung für 2017 die Erfüllung weiterer Extrawünsche nicht erlauben wird.

Aber das ist schon in Ordnung. Es hat mir Freude bereitet, dir diesen Brief zu schreiben, und vielleicht hast du ihn ja sogar gern gelesen. In Kopie geht er auch an einige Menschen, die mir am Herzen liegen, und vielleicht bilden sich so ja schon die ersten Lerngruppen und Grüppchen, in denen erste Antworten gefunden werden können, bevor wir uns weitere Fragen stellen müssen.

Den Menschen, die mit mir gemeinsam neue Antworten auf die Systemfrage finden wollen, wünsche ich Kommunikations- und Kompromissfähigkeit. Beide werden sicher bitter nötig sein, wenn sich manche Antworten gegenseitig auszuschließen scheinen, aber keine als von Anfang an falsch gelten soll. Wenn manche Antworten absolut schlecht scheinen, aber bei jeder angenommen werden soll, dass sie zunächst einmal gut gemeint sein könnte.

Dir, liebe Fee, wünsche ich einen guten Start ins neue Jahr – und dass dir 2017 spannende Begegnungen mit Menschen bringen möge, die ihre Gratis-Wünsche sinnvoll einzusetzen wissen.

 

Dein Thomas

Autor: Thomas

Geboren im Frühjahr 1969, vermutlich als Teil des Manjurian Program jahrelang darauf trainiert, die USA im Ernstfall zu verteidigen. Bei einem Aufenthalt in Japan sensibilisiert worden für amerikanische, russische und japanische Kriegsverbrechen, jahrelang als "Ronin Warrior" zwischen Ost und West unterwegs. Super Soldier. Kriegsheld. Iron Man.

3 Gedanken zu „Brief an eine unbekannte Fee“

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