Die Inspiration für den Text dieser Woche ereilt mich am Freitag der letzten. Auf einem Spaziergang durch den Frankfurter Stadtteil Niederrad stehe ich vor einer Litfaßsäule, die mich daran erinnert, dass man Demokratie leben muss, damit sie lebendig bleibt. Weil ich meine Kamera nicht zur Hand habe, ziehe ich am Samstag gleich noch einmal los, um ein Bild der Säule zu machen, die von sich selbst behauptete, keine der Gesellschaft zu sein. Weil sie mich schon beim ersten Hinsehen am Tag zuvor zum Denken angeregt hat.
Monate vorher, im Februar, hatte mich bereits ein Text von Sibylle Berg zum Denken angeregt. Erst hatte sie darin zugegeben, kaum Einfluss auf die Gesellschaft zu haben. Und dann die Linke darum gebeten, sich doch endlich zu vertragen. Warum ich bei diesem Text zustimmend hatte nicken müssen: Harmonie unter Menschen, die ein ähnliches Ziel verfolgen, führt letztlich dazu, dass das Ziel gemeinsam leichter erreicht werden kann.
Den nächsten Akt im Erkenntnisprozess der Woche leitet Jakob Augstein Ende März ein, als er von Kanzlerkandidat Schulz implizit fordert, unsere Heimat zu verteidigen. Oder zumindest den Begriff „Heimat“ wieder positiv zu besetzen? Oder zumindest wieder zu akzeptieren, dass „Heimat“ für viele Bürger dieses Landes eine grundsätzlich positive Bedeutung hat? Zumindest stellt er, durchaus gewagt für einen im Zweifel Linken, die Frage nach Wert und Bedeutung der persönlichen und gruppenspezifischen Identität.
Als nächstes fragt Christian Stöcker Anfang April, was „links“ eigentlich noch heißt. Eine abschließende Antwort darauf kann er in seinem Text leider nicht geben, aber immerhin fragt er sich darin, wie man denn dem Nationalismus beikommen könne, den eine reaktionäre Internationale als Antwort auf die real existierenden Probleme der Globalisierung präsentiert. In seiner Kolumne kommt er zu dem Schluss, dass sophistische Taschenspielertricks der kulturwissenschaftlichen Linken nicht das Mittel der Wahl sein können, wenn es um die Beantwortung der Fragen unserer Zeit geht.
Eine Replik auf Augstein und Stöcker steuert Margarete Stokowski wenige Tage später der Debatte bei: Sie ist relativ empört über die oben zitierten Texte, versucht sich an einer Neudefinition des Heimatbegriffs und ersetzt das „wahre Wesen des Linken“ durch einen kleinsten gemeinsamen Nenner, den sie als die „Forderung nach gleichen Rechten für alle, den Kampf gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit und daraus folgend Solidarität mit Schwächeren“ definiert. Und beendet ihren Satz mit einer interessanten Forderung: „Das kann auch heißen, sich Mühe zu geben, Gemeinsamkeiten zu sehen mit Menschen, die es einem schwierig machen.“
Was ich aus der ganzen Diskussion für mich persönlich mitnehme: Zumindest in den Medien wird Demokratie gelebt. Und zumindest die hier genannten Kommentatoren beteiligen sich an einer Debatte darüber, wie die Zukunft unserer Gesellschaft zu gestalten ist. Gut so!
Natürlich würde ich mich auch gerne an dieser Debatte beteiligen – fürchte allerdings, mir fehlt die Reichweite der hier zitierten Quellen. Und natürlich fehlt mir auch der gesellschaftliche Einfluss eines Reinhard Kardinal Marx, der im Spiegel unter anderem vorschlägt, Vermögen und Kapital höher zu besteuern, um den Grad der Gerechtigkeit in der Gesellschaft zu erhöhen. Aber wenn es wahr ist, dass es sich hier um eine gesamtgesellschaftliche Debatte handeln soll, dann kann ich meine Meinung ja nicht nur in Leserbriefen oder online in einem Blog kundtun, sondern auch im persönlichen Gespräch mit Menschen, denen ich an öffentlichem Ort begegne.
Was mir hier, an öffentlichem Ort, oft auffällt: Seine Meinung im direkten Gespräch zu vertreten erfordert gelegentlich auch Mut. In einer klassischen Kneipe mit eher rechtskonservativem Publikum linke Positionen zu vertreten, kann eine spannende Erfahrung sein… aber ohne die Bereitschaft, mit gegensätzlichen Positionen konstruktiv umzugehen, steht man hier auf ziemlich verlorenem Posten.
Aber auch das ist ja gelebte Demokratie: Auf Menschen zugehen und ihnen zuhören, auch dann, wenn sie einer ganz anderen Gruppe angehören als man selbst. Wobei eine Frage, die Telepolis stellt, sicher nicht ganz unwichtig ist: Welche Demokratie ist es denn genau, von der wir hier reden?
So ganz genau weiß ich das ja selbst nicht. Aber ich denke, es ist die Demokratie, die das Zusammenleben von gut 80 Millionen Menschen in diesem Land und von gut 500 Millionen in der Europäischen Union regeln soll. Um diese Demokratie im Alltag zu leben, wie es das Familienministerium in seiner Kampagne fordert, kann und soll man sich natürlich engagieren… von Zeit zu Zeit tut es aber auch ganz gut, als engagierter Zuhörer denen Aufmerksamkeit zu schenken, die nicht ganz so engagiert im demokratischen Prozess involviert sind. Hier lauert Erkenntnisgewinn, der auch bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme sinnvoll eingesetzt werden kann.
Denn es ist doch so: Häufig sind es die Lauten, die das Thema der Debatte setzen. Die Effekte, die das digitale Rauschen in der analogen Welt zeitigt, sind aber oft nur im direkten Kontakt mit real existierenden Menschen spürbar. Demensprechend lautet das Gebot der Stunde wohl: Geht’s raus und engagiert’s euch. Hört zu, macht euch ein Bild, und wenn das geschehen ist, dann beteiligt euch auch gerne mal analog an der Debatte – die nächste Filterblase ist oft nur ein paar Schritte weit entfernt, und sie zum Platzen bringen ist oft ein erster Schritt, den Zusammenhalt der Gesellschaft zu stärken.
5 Gedanken zu „Demokratie leben“