Die Cupcakes der Glückseligkeit

Die kleinen Dinge des Lebens können manchmal einfach sein: Zu Weihnachten hatte ich mir von einer meiner Nichten Zeit gewünscht. Zeit, die sie mit mir verbringen sollte. Also versprach die Nichte, Zeit mit mir zu verbringen. An einem Wochenende im April war es dann so weit – wir hatten uns verabredet, gemeinsam im Stadion in Frankfurt ein Fußballspiel der Eintracht zu besuchen, ich hatte Karten besorgt und die Nichte ihrem Vater den Auftrag erteilt, einen Fahrschein für den Fernbus zu reservieren. In diesem Text möchte ich davon berichten, was sich am Fußball-Wochenende mit der Nichte und in der Folge zugetragen hat.

Das gemeinsame Wochenende beginnt im Prinzip schon am Freitagmittag mit einer WhatsApp-Bildnachricht aus Bonn: Die große Schwester der Nichte schickt ein Foto der Cupcakes, die diesem Blogbeitrag ihren Titel geben. Schon dieses Foto weckt in mir die Vorfreude auf den Spieltag. Selbstverständlich wird es auch im Kollegenkreis herumgezeigt, und auch die Kollegen, zum Teil selbst Eintracht-Fans oder -Sympathisanten, zeigen sich beeindruckt.

Was mich nach ihrer Ankunft fast noch mehr beeindruckt als die kleinen Kunstwerke, die sie mitbringt, ist die soziale Kompetenz der Nichte: Sie schlägt vor, die Cupcakes vor dem Spiel in der nahen Kaschemme des Vertrauens vorbeizubringen, um sie dort mit den Anwesenden zu teilen. Was auch angesichts der Menge des vorhandenen Gebäcks ein sehr vernünftiger Gedanke ist. So machen sich Onkel und Nichte vor dem Spiel mit Cupcakes ausgerüstet auf den Weg, und tatsächlich ist im Schankraum schon ausreichend Publikum anwesend, das diesen Random Act of Kindness durchaus zu schätzen weiß. Befreit von der süßen Last geht es dann weiter in Richtung Stadion.

An der Einlasskontrolle dauert es diesmal etwas länger als erforderlich: Der Onkel hat vergessen, die Nichte darauf hinzuweisen, dass manche Dinge im Stadion nicht so gern gesehen werden. Die Nichte hatte aber auch nicht danach gefragt. Und so werden beim Filzen der Handtasche ein paar Gegenstände in Verwahrung genommen. Was aber dann auch nicht so dramatisch ist: Nagellack ist nicht wirklich nötig, um ein Fußballspiel zu genießen – und nach dem Spiel können eingesammelte Gegenstände am Ausgang wieder in Empfang genommen werden.

Nach einem Stadionrundgang und ein paar Fotos geht es zu den Plätzen im Block 19, direkt gegenüber der Nordwestkurve, irgendwann wird dann auch das Spiel angepfiffen. Und pünktlich zum Anpfiff entrollen die Ultras ihre Transparente. Für die Nichte ist das spannend, dem Onkel aber entlockt es nur ein Stöhnen: „Ehre der Gruppe Stadionverbot“? Meine Herren, in welchem Paralleluniversum leben wir eigentlich? Ich habe weiß Gott keine Ahnung von Ultra-Kultur, und auch die Gründe, die zu einem Stadionverbot führen können, sind mir weitgehend unbekannt… aber wie es einem Menschen zur Ehre gereichen soll, wenn er – verschuldet oder unverschuldet – von einem sportlichen oder gesellschaftlichen Ereignis ausgeschlossen wird, das will sich mir spontan nicht erschließen. Aber vielleicht sehe ich die Dinge auch zu eng, und vielleicht klärt mich da ja irgendwann in Zukunft irgendjemand auf.

„Ehre der Gruppe Stadionverbot“? Eine zumindest fragwürdige Forderung…

Vermutlich liegt es nicht an dem Transparent der Ultra-Fans, vielleicht aber doch, jedenfalls fällt das erste Tor der Begegnung bereits in der 10. Minute, und es fällt auf der Gastgeber-Seite. Die Eintracht liegt zurück, und es macht sich ein Gefühl von Déjà-vu breit: Zu oft schon hat man in den letzten Wochen hinten gelegen, zu oft schon sind Spiele unglücklich verloren gegangen. Sollte es heute etwa wieder so laufen? Lange sieht es so aus, als fiele der Heimmannschaft nichts ein. In der 77. Minute ist das Spiel fast schon gelaufen, da hat der Fußballgott ein Einsehen mit den hart geprüften Frankfurtern, und vollkommen unerwartet gelingt in der 78. Minute ein Anschlusstreffer. Was dann aber geschieht, damit hätten wohl die Wenigsten gerechnet: Durch das späte Tor fühlt sich die Eintracht wachgeküsst, die Gäste aber sind dezent überrumpelt – und in der 87. Minute geht die SGE in Führung. Und das Stadion? Das explodiert. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten sieht es danach aus, dass der Gastgeber im Waldstadion ein Spiel siegreich beenden wird.

Die Eintracht hat gewonnen. Und wie hat sie das? Na klar, verdient.

In der Verlängerung geschieht dann das noch viel Unwahrscheinlichere: Als wäre auch der letzte Knoten geplatzt, schießt die Eintracht in der 91. Minute ihr drittes Tor an diesem Tag: Knapp 50.000 Heimfans, die das Spiel im Stadion verfolgen, können ihr Glück gar nicht fassen, als der Schlusspfiff ertönt und ihre Mannschaft die notorische Rückrundenkrise überwunden hat. Nach Verlassen der Tribüne, auf dem Weg zum Ausgang, offenbart die Nichte keck: „Das war doch klar, dass die gewinnen würden. Wenn ich schon extra ins Stadion komme, ist das doch das Mindeste, was zu erwarten war.“ Zumindest das stellenweise übersteigerte Selbstbewusstsein hat sie mit ihrem Onkel scheinbar gemein.

Die Matchwinnerin nach dem Abpfiff auf dem Heimweg

Oder lag es vielleicht doch an der Anwesenheit der Nichte und an den Cupcakes, dass die Eintracht siegen konnte? Hatte der Fußballgott ein Einsehen, als er die gute Tat der Nichte sah, hat er deshalb Fabiáns Fuß gelenkt, als er den Ball zwei Mal im Netz platzierte? Hat die „Speisung der Durstigen“ in Stadionnähe so viel gutes Karma produziert, dass die positiven Schwingungen rechtzeitig vor Spielende auf dem Rasen des Waldstadions ankamen? Wenn bei einem Fußballspiel alle Akteure 100 Prozent geben müssen, haben dann die Cupcakes dem 12. Mann das letzte Quäntchen Motivation gegeben, das erforderlich war, um die Mannschaft nach vorne zu pushen? In diesem Fall müsste die Eintracht nicht nur Marco Fabián und Ante Rebić danken, sondern auch den backenden Nichten und der Herzensgüte eines jungen Mädchens, das dem 12. Mann – und damit der ganzen Mannschaft – selbstlos Gutes tat.

Sicher, die Wahrscheinlichkeit, dass es wirklich so gewesen sein könnte, ist verschwindend gering – aber trotzdem möchte ich an diese Fassung der Geschichte glauben: Taten zählen mehr als Worte, heißt es oft genug, und dass alles mit allem zusammenhängt, hat man auch schon häufiger gehört. Ohne vernünftigen Grund und ohne wissenschaftlichen Beleg möchte ich an den psychologischen Effekt der Cupcakes glauben, die der Eintracht (vielleicht nur in meiner Fantasie) zum Sieg verholfen haben.

Haben Cupcakes wie dieser eine wichtige Rolle für den Sieg gespielt?

Und wenn es wirklich die Cupcakes waren, die den Sieg gegen Augsburg erst möglich machten, dann war es der psychologische Effekt dieses Sieges, der die Mannschaft auch am Dienstag darauf motivierte, in Mönchengladbach ihr Bestes zu geben. Womit die Eintracht dann meiner Nichte gleich zwei wichtige Siege verdanken würde. Nicht, dass diese Möglichkeit sehr wahrscheinlich wäre, aber zumindest verleiht sie dem Ganzen einen angenehm poetischen Touch. Aber auch ohne diesen, ohne den kindlich-naiven Wunderglauben, den man mir ankreiden mag, lässt sich festhalten: Fürs Selbstbewusstsein waren diese beiden Siege wichtig, und vielleicht helfen sie ja sogar, die Saison zu einem unerwartet glücklichen Ende zu führen. Zu wünschen wäre es der Mannschaft und dem Verein auf jeden Fall.

Autor: Thomas

Geboren im Frühjahr 1969, vermutlich als Teil des Manjurian Program jahrelang darauf trainiert, die USA im Ernstfall zu verteidigen. Bei einem Aufenthalt in Japan sensibilisiert worden für amerikanische, russische und japanische Kriegsverbrechen, jahrelang als "Ronin Warrior" zwischen Ost und West unterwegs. Super Soldier. Kriegsheld. Iron Man.

4 Gedanken zu „Die Cupcakes der Glückseligkeit“

    1. Dürfte schwerfallen, diese These zu beweisen… und ob die Nichte auch (auf Lebenszeit!) bei jedem Heimspiel backen wollen würde, steht ohnehin auf einem ganz anderen Blatt Papier.

  1. Sehr schön die Stimmung beschrieben Lieber Thomas.
    Du solltest mit Deiner Nichte nach Berlin fahren, der Polal steht schon zur Hälfte in der Vitrine.

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