Das Leben spielt einem schon manchmal seltsame Streiche: Am Freitag blogge ich über meine „Heimat BRD“, am Samstag erscheint ein viel gelesener, viel kommentierter Artikel auf Zeit online, der die These aufstellt, dass Opa kein Held war – und der daran erinnert, dass wir als Gesellschaft vielleicht noch einmal über unsere Erinnerungen an die dunklen Jahre reden wollen, die lange Zeit in der BRD so etwas wie die Leitkultur darstellte. Im antifaschistisch geprägten Teil Deutschlands sah die Leitkultur ganz anders aus, und so war es vielleicht nur zwangsläufig, dass letztes Jahr eine Debatte darüber geführt wurde, was denn unsere Leitkultur eigentlich ausmache?
Was die Leitkultur auf jeden Fall auszeichnet: Sie reimt sich hervorragend auf „Streitkultur“. Bedeutet das jetzt etwa, dass deutsch sein heißt, den Streit zu provozieren? Oder den Streit anzunehmen, um ihn dann in geordnete Bahnen zu lenken? Oder beides? Ich bevorzuge ja die Begriffe Debatten- und Diskurskultur. Aber die reimen sich halt nicht so gut auf das Wort mit „Leit-“ am Anfang. Wer den Begriff der „Streitkultur“ eigentlich erfunden hat? Ich glaube, die Grünen waren das, aber so ganz sicher bin ich mir nicht. Schade finde ich’s ja, dass in dem Begriff der Dissens quasi schon enthalten ist, wie gesagt, Diskurskultur läge mir mehr, aber: Um des Reimes willen musste der Streit am Wortanfang stehen, als damals ein Gegenbegriff zur Leitkultur gesucht wurde. Und dann wurde (im zum Begriff gehörenden Wikipedia-Eintrag) definiert, dass die Streitkultur zu Demokratie dazugehört. Wodurch sich fast zwangsläufig ergibt, dass aus notwendigem Diskurs ein schriller Streit wird, in dem extreme Positionen extreme Zustimmung oder extreme Ablehnung erfahren. Manchmal möchte man wirklich sagen: Cool down, die Lage ist nicht so verzweifelt, wie sie sich manchmal darstellt. Dass ein Mann wie Peer Steinbrück im Zusammenhang mit der Leitkultur-Debatte des vergangenen Jahres erst neulich wieder an „Zivilität und Umgangsformen“ erinnerte, steht dem Mann durchaus gut zu Gesicht. Und wenn wir es jetzt noch schaffen, aus unserer Leit- und Streitkultur so eine Art Diskurs- und Kompromisskultur zu machen, wird das sicher nicht nur die Demokratie neu beleben, sondern auch mittel- bis langfristig das Zusammenleben verschiedener Ethnien in diesem Land erleichtern… Immer vorausgesetzt, dass auch alle mitmachen.
An anderer Stelle habe ich mal festgehalten, dass aus dem Volk der Richter und Henker, das wir in den dunklen Jahren unserer Geschichte waren, irgendwann ein Volk der Schlichter und Lenker werden müsse, wenn Deutschland eine gute Zukunft haben soll. Dafür wäre die Erweiterung der Leit- und Streit- um eine Diskurs- und Kompromisskultur vielleicht ein Denkansatz, der weiterführen kann. Vielleicht machen wir uns aber auch noch mal gemeinsam Gedanken über unsere Werte? Und darüber, ob bzw. wie wir neben einer noch zu findenden Diskurs- und Kompromisskultur auch die Erinnerungskultur am Leben halten sollen, die in der alten BRD so lange Konsens war und die von der neuen Oppositionspartei im deutschen Bundestag immer wieder offensiv in Frage gestellt wird. Ja, ich denke, so eine Wertediskussion kann der Gesellschaft niemals schaden. Wie überhaupt aufgeklärte Debatten über Ideen statt über Personen eine Gesellschaft mittelfristig sicher weiter führen können als der reine Personality-Politikbetrieb, mit dem man’s oft zu tun hat. Aber das ist nur meine Meinung, die muss nicht zwingend richtig sein…
Ist ja im Prinzip sicher auch egal. Gibt’s sonst nichts Neues, Interessantes? Doch, irgendwie schon: Dieses Wochenende wettert Sibylle Berg über Outdoorjackenträger, wie ich selber einer bin, und gegen den spießigen Kleingeist, der dieses Jahrtausend bisher beherrscht. Ich nicke mit dem Kopf und denke: So viel Hass auf alles kann doch nicht konstruktiv sein, Frau Berg wäre doch sicher auch lieber Teil der Lösung als Teil des Problems. Wie gesagt: Streit- oder Diskurskultur, da gibt es schon einen Unterschied, etwas weniger Krawall und etwas mehr konstruktive Inhalte in einer gewaltfreien Debatte, das fände ich persönlich klasse. Konstruktiver empfand ich den Debattenbeitrag von Georg Diez am Sonntag, der das politische System der Moderne bedroht sieht von den Konzepten der „illiberalen Demokratie“ und der „undemokratischen Liberalen“. Er fordert nach dem Mitgliederentscheid von der SPD die Erarbeitung innovativer Konzepte und beschreibt „eine grundsätzliche Neusortierung des Parteienspektrums“, die „auch noch eine Weile anhalten [wird]“.
Wohin die Reise geht? Das wird sich im Verlauf der öffentlichen Debatte sicherlich ergeben. Grundsätzlich denke ich, ein Kompromiss zwischen liberalem und sozialem Denken müsste neu ausverhandelt werden: Nachdem das sozialistische Experiment gescheitert ist, nachdem das Pendel lang genug in Richtung neoliberal ausgeschlagen ist, wäre es vielleicht an der Zeit, eine Antithese zu formulieren: Der Begriff „Neosozialismus“ ergibt im Moment auf Google nicht sooo schrecklich viele Treffer – weil es das Konzept offiziell noch gar nicht gibt? Weil es bis jetzt noch nicht in sooo schrecklich vielen Köpfen existiert?
Vielleicht wäre es ja interessant zu sehen, wie dieses Wort in den nächsten Monaten und Jahren mit weiteren Inhalten gefüllt wird – deshalb werfe ich es heute einfach mal in meinen privaten Echoraum, um zu sehen, ob irgendwer den Gedanken aufnimmt und weiterspinnt. Ob sich daraus im Laufe der Zeit eine gesamtgesellschaftliche Debatte entwickelt, darauf bin ich ehrlich schon ein ganz klein wenig, so ganz minimal, gespannt.
Als ich zur Stelle kam, wo Du schreibst: „Aber das ist nur meine Meinung, die muss nicht zwingend richtig sein…“ dachte ich mir, dass es selbst dann noch nicht richtig sein muss, wenn ich die bis dahin ausgedrückte Meinung völlig teile. Aber schön wäre es schon … zumindest nach meiner Meinung.
Der Begriff „Neosozialismus“ ist aber dann ein Punkt, wo ich nicht so leicht „ja“ sagen mag. Leider fallen mir gleich diverse Neo…ismen ein, die in meinen Augen eine Verschlimmbesserung der ursprünglichen Weltanschauung darstellen. Im Neokonfuzianismus ist nach meinem Verständnis viel von dem verlorengegangen, was Konfuzius als Freund des Menschseins mit liebevollem Verständnis für unsere Unzulänglichkeiten kennzeichnete. Im Neoliberalismus vermisse ich den Geist des frühen Liberalismus, welcher der Mehrheit der Menschen einen Ausweg aus fremdbestimmter, undemokratischer Existenz zeigen wollte.
Aber das ist jetzt nur meine Meinung, mit der ich mich am Diskurs beteiligen möchte.
Lieber Gero,
danke für den Beitrag zum Diskurs. Und danke für die Zustimmung zum oben Gesagten (bis zu dem von dir zitierten Satz).
Dass du mit Neo…ismen ein Problem hast, kann ich durchaus verstehen. Der Neoliberalismus hat tatsächlich viel von dem kaputt gemacht, was Liberalismus früher mal bedeutet haben mag. Gerade deshalb dachte ich mir: Ein öffentlich verhandeltes und clever definiertes Gegengewicht dazu täte der Welt vielleicht ganz gut – die Sehnsucht nach Alternativen zum bestehenden System scheint ja bei einigen durchaus vorhanden zu sein.
Ob der „Neosozialismus“ da eine Option wäre? Ehrlich, ich weiß es selber nicht. Aber dieses Blog dient mir eher nur als „Gedankensortiermaschine“, wo man mal über alles reden oder schreiben kann… ob die Ideen dann etwas taugen, darüber lässt sich später immer wieder diskutieren.